B.net fragt nach – Interview mit Melanie Siefert und Enrico Göbel vom VSV-BFW Würzburg

Foto von Melanie Siefert und Enrico Göbel
Der Blick von Würzburgs Blindenfußballern geht nach vorne: Die stark sehbehinderte Melanie Siefert bekommt von Torhüter Enrico Göbel noch einige Tipps für die Blindenfußball-Bundesliga.

Mit viel Optimismus starten Würzburgs Blindenfußballer am 14. April in die neue Bundesliga-Saison. Die Mannschaft von Vital-Sportverein (VSV) und Berufsförderungswerk (BFW) Würzburg hat sich mit interessanten Spielern verstärken können. Neben den ehemaligen Marburgern Manuel Beck und Sebastian Hofmann ist Torhüter Mikel-Patrick Preul neu im Team. Und mit Melanie Siefert steht erstmals eine Feldspielerin im Kader. Sie zählt bundesweit zu einer Handvoll Frauen, die in der Bundesliga an der Seite von männlichen Mitspielern dem Rasselball nachjagen. Die gelernte Physiotherapeutin bereitet sich im BFW Würzburg gerade auf ihre Rückkehr ins Berufsleben vor und fiebert ihrem ersten Bundesligaeinsatz entgegen.

Schon länger dabei ist Torhüter Enrico Göbel. Der IT-Lehrer hat im März sein erstes Länderspiel für die Deutsche Blindenfußball-Nationalmannschaft bestritten.
Marcus Meier vom BFW Würzburg traf Melanie Siefert und Enrico Göbel beim Training in Veitshöchheim.

Frau Siefert, am 14. April startet für Sie die neue Saison. Steigt das Adrenalin im Blut?

Melanie Siefert: Klar, ich bin schon gespannt. Vor allem freue ich mich auf die vielen fußballverrückten Kicker, die ich bei den Spieltagen treffen werde. Die Blindenfußball-Bundesliga ist ja bei allem Ehrgeiz, was man so hört, wie eine große Familie. Etwas Respekt habe ich auch, schließlich wird mein Sehrest beim Spiel mit Augenpflastern und Schwarzbrille auf Null reduziert. Wir Feldspieler rennen also ohne irgendetwas zu Sehen über den Platz und orientieren uns akustisch am Rasseln des Balles.

Herr Göbel, als frischgebackener Blindenfußball-Nationalspieler kennen Sie den ersten Gegner Marburg doch ganz gut?

EG: Das stimmt, in der Nationalmannschaft gibt es einige Spieler des aktuellen Deutschen Meisters aus Marburg. Beim letzten Länderspielwochenende standen wir noch gemeinsam gegen den amtierenden Europameister Frankreich auf dem Platz. Die Stimmung im Team ist toll und freundschaftlich. Am ersten Spieltag stehen wir uns dann aber wieder gegenüber und es wird sich zeigen, ob wir als klassische Spätstarter gegen die starken Marburger bestehen können.

Wann und wie sind Sie denn auf die Sportart Blindenfußball gekommen?

MS: Ich bin seit Geburt stark sehbehindert. Meinen Eltern war es aber immer wichtig, dass ich normal aufwachse. In der Regelschule habe ich trotz Seheinschränkung Volleyball gespielt. Auch Fußball kicken war immer ein Thema, zum Beispiel mit meinem jüngeren Bruder in unserem Garten. Blindenfußball gibt es in meiner Heimatstadt Göttingen leider nicht. Deshalb bin ich froh, dass ich seit Mitte letzten Jahres hier in Würzburg mit den Blindenfußballern trainieren kann.

Enrico Göbel: Als IT-Lehrer des BFW, einem Bildungszentrum für sehbehinderte Menschen, habe ich 2010 einen Bundesliga-Spieltag in Würzburg als Zuschauer erlebt. Ich wusste sofort: Da möchte ich mich engagieren. Nachdem ein Kollege sagte, ich würde es ohnehin nicht in die Bundesliga schaffen, war mein Ehrgeiz geweckt.

Blindenfußball kennt ja nicht jeder. Wie läuft die Sportart denn ab?

MS: Blindenfußball wird auf einem Feld mit Handballgröße gespielt. An den Längsseiten gibt es hüfthohe Banden. Pro Team treten vier blinde Feldspieler und ein sehender Torwart an. Der Spielball ist innen mit Schellen versehen und rasselt, so können die Augenpflaster und Schwarzbrille tragenden Spieler ihn durch ihr Gehör orten.

EG: Zwei Guides pro Mannschaft geben zusätzlich zum sehenden Torwart von außen Kommandos und unterstützen die Spieler durch Zurufe. Die wichtigste Regel lautet „Voy“. Sobald der ballführende Gegenspieler angegriffen wird, ruft der Spieler „Voy“, um vor einem Zusammenprall zu warnen. Die Spielzeit beträgt zweimal 25 Minuten.

Und wie sieht Blindenfußball in der Praxis aus?

MS: Absolut toll ist, dass man sich auf dem Spielfeld frei bewegen, laufen und rennen kann. Viele Blindensportarten sind an sehende Guides gebunden, die uns führen und unmittelbar an der Seite des Sportlers aktiv sind. Im Blindenfußball ist man auf dem Platz völlig auf sich gestellt. Die Guides stehen außerhalb des Spielfelds und geben nur Kommandos.

EG: Viele Zuschauer, die zufällig beim Blindenfußball vorbeikommen, merken erst nach einigen Minuten, dass die Spieler blind sind. Es ist erstaunlich, mit welcher Ballsicherheit und welchem großen Mut hier gespielt wird und was für ein rasantes Match sich entwickelt.
Wer sich Blindenfußball wie Rasenschach vorstellt, täuscht sich gewaltig. Den besten Spielern der Bundesliga merkt man zunächst gar nicht an, dass sie nichts sehen.

Der Sport ist offenbar nichts für Weicheier. Wie sieht es denn mit dem Verletzungsrisiko aus?

MS: Das Risiko ist nicht größer als bei anderen Sportarten. Klar, man muss auch einstecken können. Nach dem Spiel ist das aber vergessen und man versteht sich wieder blendend…

Der Torwart ist sehend, ist das nicht ungerecht?

EG: Nein! Für den Torhüter gelten Restriktionen, zum Beispiel darf er seinen Zweimeterraum nicht verlassen. Tut er es doch, gibt es einen Strafstoss. Den Spielern ist es also möglich, bis auf kürzeste Distanz auf das Tor zu zulaufen, ohne das der Keeper eingreifen darf. Die wirklich guten Spieler nutzen solche Freiheiten eiskalt aus.

Auf was müssen Sie als Blindenfußball-Torwart besonders achten?

EG: Neben dem Halten der Bälle ist man als „sehendes Auge“ seiner Abwehrreihe gefordert. So müssen die gegnerischen Angreifer unentwegt im Blick behalten werden. Schuss oder Pass? Muss mein zweiter Verteidiger weiter zurück, da sich der gegnerische Stürmer gerade lösen möchte? Wird es brenzlig, müssen sekundenschnell lautstarke und punktgenaue Anweisungen gerufen werden. Nicht selten powert ein Blindenfußballspiel stärker psychisch als physisch aus.

Was war Ihr schönstes Erlebnis beim Blindenfußball?

EG: Es gab tolle Kontakte und Gespräche zu prominenten Fußballern wie Horst Eckel, dem Weltmeister von 1954. Das wirklich Wunderbare am Blindenfußball ist aber, dass er über alle Grenzen und Handicaps hinweg verbindet. Blinde, sehbehinderte und sehende Sportler, Frauen und Männer über alle Altersklassen kommen in einem Team zusammen.

MS: Und sogar kulturelle Unterschiede werden zur Nebensache: Im letzten Jahr trainierten wir auf unserem Platz mit Straßenfußballern aus Tansania. Die Gäste verstanden kein Wort deutsch, wir konnten die Gäste nicht sehen. Die Kommunikation war also alles andere als leicht. Es gab aber eine gemeinsame Sprache – und die heißt Fußball.

Wie kommt denn ihre Blindenfußball-Leidenschaft bei Ihren Freunden an?

MS: Meine Freunde finden´s alle toll. Ihnen imponieren der Mut und die Stärke, die man braucht, um blind Fußball zu spielen. Viele Leute trauen uns sehbehinderten und blinden Menschen immer noch wenig zu. Blindenfußball ist eine gute Möglichkeit, zu zeigen, was wir alles können.

EG: Ab und zu höre ich Sätze wie: „Ach, du spielst doch mit diesen Behinderten.“ Das ärgert mich. Ich spiele mit gleichgesinnten Sportlern, wir haben gemeinsame Ziele. Nur weil der eine oder andere nicht sehen kann, spricht doch nichts dagegen, dass man gemeinsam Spaß hat. Jeder der mal ein Spiel der Blindenfußball-Bundesliga miterlebt hat, weiß genau, was mich an diesem Sport so fasziniert. Wie versiert gute Blindenfußballer mit dem Ball umgehen können, ist atemberaubend. Und auch zwischenmenschlich kann man sich von vielen Akteuren eine Scheibe abschneiden.

Was machen Sie, wenn Sie nicht gerade Blindenfußball spielen?

EG: Ich habe Informatik studiert und arbeite im BFW Würzburg, einem Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte. Dort unterrichte ich angehende Fachinformatiker Anwendungsentwicklung und IT-Kaufleute.

MS: Ich nehme hier im BFW an einem Integrationskurs für Sehbehinderte teil. Mein Ziel ist, möglichst rasch in meinem erlernten Beruf als Physiotherapeutin Fuß zu fassen. Im Sommer starte ich ein Praktikum bei einer Praxis für Physiotherapie in Veitshöchheim.

Welche Ziele haben Sie für die anstehende Saison und das erste Spiel gegen Marburg?

MS: Ganz einfach: Ein paar Minuten Bundesligaluft schnuppern. Und den Männern in der Liga zeigen, dass man auch als Frau gut mit dem Rasselball umgehen kann.

EG: Mit Rang 6 haben wir uns letztes Jahr unter Wert geschlagen. Unser Ziel ist es, als Team noch enger zusammen zu wachsen. Dann ist ein Platz in der ersten Tabellenhälfte drin.

Interview: Marcus Meier