B.net fragt nach: Tore fallen auch hinterm Tor

„Vier blinde Feldspieler und ein sehender Torwart spielen mithilfe eines rasselnden Balls und einigen Regelanpassungen Fußball.“ So oder so ähnlich beginnen häufig die Erklärungen zum Blindenfußball. Dass ein Team erst durch die zwei Rufer hinter der Bande und hinter dem gegnerischen Tor komplett ist, wird zumeist nicht so gesehen. Dabei ist der Beitrag, den die sehenden Mitspieler durch ihre Zurufe leisten, ein wesentlicher Bestandteil der Sportart Blindenfußball.

Im heutigen Interview beleuchtet Blindenfussball.net die Position des Guides näher und begrüßt hierfür eine Expertin der ersten Stunde: Jule Söhner, Guide des viermaligen deutschen Meisters MTV Stuttgart und der Nationalmannschaft.


B.net: Jule, vielleicht sollten wir dem geneigten Leser zunächst erklären, wohin dein bisheriger Nachname „Hallanzy“, der häufiger zu Artikulationsschwierigkeiten geführt hatte, verschwunden ist.

Jule Söhner: Der ist im Sommer 2013 im Personalausweis einfach eine Zeile tiefer gerutscht und hat die drei Buchstaben GEB davor bekommen.

B.net: Jule, du bist eines der Urgesteine im deutschen Blindenfußball. Schon beim Initiationsworkshop im Mai 2006 warst du begeistert dabei und hältst dem Sport seither die Treue. Wenn du dich in diese Anfangszeit zurückversetzt: Was hat dich damals am meisten an der rasanten Entwicklung fasziniert und was sind für Dich heute, nach knapp acht Jahren, die Hauptthemen, die dir zum Blindenfußball einfallen?

Jule: Fasziniert hat mich, dass es trotz Blindheit möglich ist, Teilhabe am Volkssport Nr. 1 zu haben und so als blinder Mensch ein Stück mehr in die Gesellschaft integriert zu sein. Außerdem wird in diesem Sport Inklusion wirklich gelebt. Auch wir Sehenden dürfen mitspielen, und zwar nicht nur als Trainer und Betreuer, sondern auch als Teammitglieder auf dem Feld bzw. hinter dem Tor. Nicht mehr die Behinderung steht im Fokus, sondern der Sport. Wir können gemeinsam als Team etwas erreichen. Das Beeindruckendste am Anfang war sicherlich die ungeheure Geschwindigkeit mit der blinde Menschen in dieser neuen Sportart Fortschritte machen konnten und der ungeheure
Enthusiasmus, der diese rasante Entwicklung in Deutschland überhaupt erst möglich gemacht hat. Das Thema Inklusion ist dabei sicher noch ausbaufähig, da momentan noch die Menschen, die „nur“ eine Sehbehinderung haben und nicht vollblind sind, nur schwierig am Spielbetrieb teilnehmen können. Die DBFL ist da ein guter Vorreiter, international kann sich meines Erachtens noch einiges bewegen.

B.net: In der Anfangszeit hast du mit Alex Fangmann an der Universität in Tübingen Fußball für Blinde angeboten, später wurde dieses Angebot von deinem Bruder Jonas fortgeführt. Eine eigene Mannschaft konnte Tübingen nie stellen, eher fungierte die Universitätsstadt als zusätzlicher Trainingsstandort für das Team Stuttgart. Wie sieht es heute mit dem Blindenfußball in Tübingen aus?

Jule: Soweit ich weiß ist das leider wieder eingeschlafen, da keiner der o.g. noch in Tübingen wohnt.

B.net: Im Jahre 2007 fand erstmals ein Turnier mit einer Torfrau statt. Damals hütetest du beim ersten LichtKick in Neumünster das Tor des MTV Stuttgart. Später hat man dich noch einmal als Torfrau beim sog. Frauenweltpokal in Marburg gesehen. Wie kommt es, dass du als Ruferin auch zwischen den Pfosten standest, spielst du selber Fußball, bist du evtl. sogar Torfrau und wird man dich in der Zukunft vielleicht wieder einmal als Torhüterin sehen?

Jule: Ich spiele selbst Fußball, auch mal zwei Jahre im Tor, aber eigentlich auf der linken Außenbahn. Beim Blindenfußball habe ich im Training schon alle Positionen ausprobiert, wo gerade Not an der Frau war. Meines Erachtens unterscheiden sich die Positionen Torwart und Guide nicht so sehr. Beide müssen gut und präzise mit ihren Mitspielern kommunizieren. Der Torwart hat die Schwierigkeit noch nebenher Bälle fangen zu müssen, der Guide muss dafür spiegelverkehrt rufen. Ich vermute nicht, dass ich noch einmal als Torfrau gebraucht werde, dafür haben wir genug furchtlose Männer, die das besser können.

B.net: Der MTV Stuttgart setzte von Anfang an auf eine Frau hinter dem Tor. Lange Zeit wurde dies als nicht so wichtig erachtet, später zogen andere Teams wie Würzburg oder Dortmund nach und wählten eine weibliche Stimme hinter des Gegners Tor. Manche behaupten, dass es völlig egal sei, wer als Zielstimme fungiert, solange das Guiding korrekt durchgeführt wird. Was meinst du dazu und was bedeutet überhaupt „korrekt“?

Jule: Das „korrekte“ Guiding gibt es meines Erachtens nicht. Jeder Stürmer ist individuell. Manche brauchen einfach nur ein Geräusch um zu wissen, wo das Tor ist, manche wollen ganz genaue Anleitung. Wichtig ist, dass man oder frau seine Stürmer gut kennt und individuell arbeitet. Auch bei der Frage, ob Mann oder Frau als Guide, gibt es persönliche Vorlieben. Männer sind in der Regel lauter, Frauenstimmen hingegen heben sich besser vom allgemeinen Stimmengewirr auf dem Feld ab. Ich bin froh, dass meine Jungs vom MTV und von der Nationalmannschaft auf mich setzen. Anders als die blinden Feldspieler, bin ich in diesem Spiel austauschbar.

B.net: Von Beginn an hast du den Blindenfußball in Stuttgart beobachtet, begleitet und mit geformt. Kannst du unseren Lesern und vielleicht auch allen anderen Blindenfußballteams verraten, worin das Geheimnis des Erfolgs liegt? Oder gibt es da gar kein Geheimnis?

Jule: Kein Geheimnis liegt sicherlich im Können der Spieler. Dass wir ein paar Talente in Stuttgart haben, ist pures Glück. Worin ich einen wirklichen Vorteil sehe, ist der Umstand, dass alle, die beim MTV mit Blindenfußball zu tun haben, auch aus dem Fußball kommen und daher ihre eigenen Erfahrungen in Spiel und Training einbringen können. Natürlich ist es auch von Vorteil, dass der harte Kern jetzt schon einige Jahre miteinander trainiert, die Stärken und Schwächen und auch die Macken jedes einzelnen kennt.

B.net: Im vergangenen Jahr standest du für den MTV in der Liga nur bei den letzten zwei Spielen am Finalspieltag hinter dem Tor. Woran lag das und wie wird es in diesem Jahr aussehen?

Jule: Im letzten Jahr hatte ich neben meiner Arbeit als Lehrerin noch eine Hochzeit vorzubereiten. Daher musste ich mich beim Blindenfußball ein bisschen zurücknehmen. In diesem Jahr möchte ich, auch im Hinblick auf die WM, wieder voll angreifen.

B.net: Nun direkt zur Guidetätigkeit: Was sind für dich die größten Herausforderungen, die ein Guide im Spiel beherrschen muss?

Jule: Die größten Herausforderungen sind zum einen, das ganze Spiel über hoch konzentriert zu bleiben um keine mögliche Torchance durch Unaufmerksamkeit zu verschenken. Zum anderen muss man das Spiel gut lesen können und mit den Informationen für die Spieler immer einen Schritt voraus denken, insbesondere wenn mehrere Stürmer gemeinsam angreifen.

B.net: Wenn einer deiner Stürmer eine Großchance vergibt, fühlst du dich dann als sein akustisches Ziel manchmal ein Stück weit dafür mitverantwortlich?

Jule: Kommt darauf an, woran es lag. Wenn ich durch schlechte Kommunikation Schuld bin, nehme ich das ganz klar auf meine Kappe. Wenn der Spieler mich nicht hören konnte, oder seine eigenen Ideen umsetzt, dann fühle ich mich nicht unmittelbar für den Misserfolg verantwortlich.

B.net: Wie merkst du im Gegenzug, dass es genau deine Anweisungen waren, die zum Torerfolg geführt haben?

Jule: Wenn der Spieler genau meine Idee bzw. Information umsetzt und das dann zum Torerfolg führt ist es natürlich spitze. Es ist immer ein schmaler Grat zwischen einer Information für einen selbst denkenden Spieler und einem Befehl, weil die Lücke, die man gesehen hat, eben gerade jetzt einen Schuss erfordert.

B.net: Auf dem Feld ist in der Regel gewaltig was los; vor deinem Tor rufen stellenweise bis zu acht Akteure durcheinander. Wie schaffst du es, dass du zum einen selbst ruhig bleibst und zum anderen, dass deine Anweisungen tatsächlich bei deinen Mitspielern ankommen und nicht im Geräuschesumpf versinken?

Jule: Daran selbst ruhig zu bleiben, übe ich schon lange. Am Anfang meiner Blindenfußball-Karriere war ich mindestens genauso hektisch wie die Spieler, ich denke, dass mir das inzwischen immer besser gelingt. Ruhig und gelassen die richtige Information zu geben, wenn es im Strafraum brennt und dem Spieler somit die nötige Ruhe zum Torabschluss zu vermitteln und trotzdem die gebotene Dringlichkeit deutlich zu machen, das ist die hohe Kunst des Guidings. Wenn zum Beispiel der Torwart deutlich lauter ruft als ich und ich dadurch nicht zu hören bin, nutze ich einfach seine Atempausen für kurze prägnante Hinweise, das ist viel effektiver als dagegen zu brüllen und somit das Rasseln des Balles vollends zu überdecken.

B.net: Immer wieder sieht man, dass auf der Position des Guides personell viel rotiert wird. Sollte hier nicht mit mehr Geduld gearbeitet werden, um das Zusammenspiel zu optimieren oder woran meinst du liegt es, dass einige Teams hier so eine hohe Fluktuationsrate haben?

Jule: Die meisten Mannschaften in der DBFL spielen mit einer eher defensiven Taktik. Für die oft als einzige Spitze agierenden Stürmer ist es dann sehr schwierig durch das Abwehrbollwerk des Gegners zu kommen. Ich denke, dass es für einige Guides vielleicht auch frustrierend ist, da relativ wenige Tore erzielt werden. Wenn man sich die Zeit nimmt, gemeinsam mit den Spielern Konzepte zu erarbeiten, dann kann es mittel- oder langfristig auch eine fruchtbare Zusammenarbeit geben. Ich finde es wichtig, dass nicht in jedem Spiel jemand anderes hinter dem Tor steht. Die Spieler müssen sich auf die Informationen der Guides blind verlassen können, dafür ist ein gewachsenes Vertrauensverhältnis enorm wichtig.

B.net: Des öfteren sieht man in Spielen Abstimmungsschwierigkeiten zwischen Spielern und Rufern. Gibt es eigentlich eine Art Schulung oder Fortbildung für Guides und falls nicht, warum wird so etwas nicht angegangen, um die Qualität eines Spiels zu erhöhen?

Jule: Ein Lehrgang für Guides war meines Wissens seitens des DBS angedacht, kam aber bisher leider aus mir unbekannten Gründen nicht zustande. Ich fände es eine sehr sinnvolle Sache, da ja nicht nur der Tor- bzw. Ligaerfolg einer Mannschaft vom Guide abhängen, sondern unter Umständen auch die Gesundheit der Spieler.

B.net: Wechseln wir aus der Liga zum internationalen Geschäft. Jule, du bist seit der ersten Europameisterschaft 2007 in Athen als Guide Teil der Nationalmannschaft und hast seither bei 25 von 32 möglichen Länderspielen das Team geguidet. Führt man eigentlich als Guide ähnlich wie als Stürmer eine Statistik, wie viele Tore man „geguidet“ hat? Um es vorab aufzulösen: du hast 34 der 40 von Deutschland erzielten Tore ins Netz gerufen.

Jule: Ich persönlich bin nicht so der Statistiker, aber das jetzt so zu hören macht mich schon stolz. Allerdings habe ich auch mit klasse Stürmern arbeiten dürfen, die es mir leicht gemacht haben, auf so eine Quote zu kommen.

B.net: Welchen Effekt hat es auf dein Guiding, wenn du die Kommunikation des fremdsprachigen Torwarts und seiner Abwehr nicht unmittelbar nachvollziehen kannst?

Jule: Es ist natürlich leichter zu dirigieren, wenn ich schon weiß, wo der Torwart seine Abwehr hingeschickt hat oder wohin der Abwurf gehen soll. Grundsätzlich möchte ich aber die Lücken schon finden, bevor der Torwart sie wieder zustellt und deshalb versuche ich aus seiner Körperhaltung die Richtung des Abwurfes zu antizipieren. Ich bin also nicht so sehr auf die Kommunikation des Torwarts angewiesen.

B.net: Zwischen Guide und Torwart gibt es doch sicherlich ab und zu ein paar Wortwechsel. Versucht man diese nicht strategisch einzusetzen und kannst du da mit interessanten Anekdoten dienen?

Jule: Die meisten Torwarte versuchen, sich nicht ablenken zu lassen, aber es gehört sicherlich zur Psychologie des Spiels sich gegenseitig Teile der Aufmerksamkeit zu stibitzen.

B.net: Durch euren vierten Platz bei der letztjährigen EM in Italien geht es in diesem Jahr für Deutschland zum ersten Mal zu einer Weltmeisterschaft. Am 18. März fliegt das Team schon einmal für ein Freundschaftsspiel gegen Japan nach Tokyo. Du wirst allerdings nicht dabei sein können und von Werner Nordlohne, der in der Liga bei Eintracht Braunschweig aktiv ist, ersetzt. Wieso musst du diese sicherlich interessante Tour ausfallen lassen und welche Tipps hast du deiner Aushilfe mit an die Hand gegeben?

Jule: Leider kann ich für diese Woche nicht von der Arbeit freigestellt werden, da die Klasse, in der ich Klassenlehrerin bin, ins Landschulheim fährt und ich mit muss/darf. Als Tipp für Werner kann ich nur sagen, hör auf die Jungs, Du hast tolle Stürmer dabei und am meisten lernt man von seinen Spielern. Außerdem ist es sehr gewinnbringend sich anzuschauen, wie die anderen Guides arbeiten und zu überlegen, ob sich Dinge auch für das eigene Guiding bewähren könnten. Ansonsten habt Spaß und genießt den Trip!

B.net: Im Jahresverlauf soll es weitere Testländerspiele geben. Wirst du dann wieder zur Verfügung stehen?

Jule: Ja, absolut.

B.net: Wenn es dann im November nach Japan geht, worauf freust du dich schon jetzt am meisten?

Jule: Mit meinen Jungs unterwegs zu sein und gegen die großen Teams wie z.B. Brasilien oder Argentinien zu spielen.

B.net: Die Nationalmannschaft hat in den letzten zwei Jahren einige neue Gesichter erhalten. Bei der DFB-Elf sagt man, dass es die beste Mannschaft sei, die man seit Langem hat und viele erwarten deshalb ja sogar automatisch den Weltmeisterschaftstitel in Brasilien. Ist es im Blindenfußball ähnlich oder wie würdest du die Stärke des deutschen Teams beschreiben? Müssen wir da, etwas provokant gefragt, auch schon den WM-Erfolg einfordern oder eher froh sein über jede Minute, die wir gegen erfahrene Mannschaften zu null spielen?

Jule: Wir haben ein starkes Team. Ich denke, dass wir in der Breite jetzt besser aufgestellt sind, als noch vor einigen Jahren. Den WM-Erfolg einzufordern wäre aber vermessen. Es ist wichtig noch mehr internationale Erfahrungen auf diesem hohen Niveau zu sammeln um dann bei der EM 2015 voll anzugreifen und uns dort für die Paralympics in Rio 2016 zu qualifizieren.

B.net: Du warst nach deinem Studium für einige Monate in Brasilien und auch dort dicht dran am Blindenfußball. Mal ganz ehrlich, träumst du nicht schon ein wenig von den Paralympics in Rio 2016?

Jule: Das ist wirklich ein echter Wunschtraum und ich denke dass wir ihm durch das Erreichen der WM schon ein kleines Stückchen näher gekommen sind.

B.net: Es gäbe sicher noch viele weitere interessante Fragen an dich, aber die werden wir dir im Laufe des Jahres in einem zweiten Interview stellen. Gibt es noch etwas, was du allen, die sich gerne mal als Guide probieren möchten, mit auf den Weg geben möchtest?

Jule: Sei mehr als nur das paar Augen im Spiel, sei Kumpel, sei Zeugwart, sei Mädchen für alles, sei Beobachter, sei kritischer Fragensteller, sei Seelsorger, sei Aushilfstorwart oder –feldspieler, sei ehrgeizig, sei dabei, sei Teil Deiner Mannschaft und der großartigen Blindenfußballfamilie!

B.net: Vielen Dank, Jule, für diese motivierenden Worte und interessanten Einblicke ins Spielgeschehen aus der Hintertorperspektive. Die Redaktion wünscht dir und deinen Teams ein erfolgreiches Jahr 2014. Auf dass ihr euren Zielen ein Stück näher kommt!